Zwischen den nüchternen Plattenbauten und unkrautbewachsenen offenen Plätzen von Hellersdorf, einem Musterbeispiel ostdeutschem Wohnungsbaus der 80er Jahre in der Peripherie von Berlin, wirkt Kapitalismus oft immer noch wie ein Eindringling. Anstelle von Ladenfronten wird das Bild der schattigen Betonpromenaden dieser Gegend und der von Marzahn, ihrem Nachbar, in letzter Zeit immer öfter von gemeinschaftsorientierten Studios und Kunsträumen, wie mp43, bestimmt.
Carola Rümper und Marnie Müller, der „Zweitaktmotor“ hinter mp43, gaben ihrem Ein-Tages-Event den schlichten Titel Topflappen – und zwar aus dem einfachen Grund, dass das ein Gegenstand ist, mit dem sich jede und jeder identifizieren kann. Das PSF-Stammpublikum, die es an diesem heißen Montagnachmittag so weit raus, bis ans Ende der U5, geschafft hatten trafen dort auf ein etwas anderes Publikum – aus dem Herzen von Hellersdorf.
Abgesehen von unseren Eigenheiten hatte jeder schon einmal irgendeine Form von Zuhause und jeder kennt Nostalgie. Babel, ein partizipatorisches Projekt von Sandra Schmidt, war eine Sammlung und Installation von Geschichten rund um kleine, handgemachte Papierhäuschen, gebastelt von den Ausstellungsbesuchern – Erwachsenen, Kindern und allen dazwischen. Es war sicher eine ästhetische Entscheidung der Künstlerin, dass die Häuser ohne Boden gebaut werden sollten. Die daraus resultierende mobile-artig, hängende Ausstellung warf einen angenehmen Schatten auf die Wände des Raums. Gleichzeitig konnte ich nicht umhin, zu denken, dass es in dieser zeitgenössischen do-it-yourself Welt oft ein einsames Geschäft ist, seine eigene provisorische Infrastruktur selbst herzustellen.
Sandra Schmidt, Babel, partizipatorische Arbeit, 2016
Foto: Heiko Pfreundt
Draußen in der Sonne thematisierte ein Spiel, erdacht von Kirsten Wechslberger, für die Ausstellungsbesucher Fragen des Alters, sexueller Orientierung, Hautfarbe, Gesundheit und anderer Begriffe im Zusammenhang mit Marginalität durch diese Begriffe. Meine Partizipation war beschränkt auf eine lebhafte Unterhaltung über Tattoos und ob es möglich ist, sich durch das Tragen eines T-Shirts mit dem Aufdruck einer nackten Frau in lasziver Pose, marginalisiert zu fühlen. Ich hatte den Eindruck, dass diese Frage dem Träger des T-Shirts, ein leise sprechender Mann mit Down-Syndrom, nicht besonders relevant erschien. Für einen kurzen Moment beneidete ich die weißhaarige Bewohnerin, die uns aus der Sicherheit ihres Balkons beobachtete.
Project Space Festival Tag 9: Galerie BRD
Die Stromstraße, in der wir uns am neunten Festivaltag in Moabit befinden, führt entlang eines Baustellenareals mit weinroten Bannern über den Bauzäunen, auf denen neben der Errichtung einer Shopping-Mall, „Ateliers in denkmalgeschützten Altbauten geeignet für Künstler und Kreative“ angekündigt werden. Kurz bevor sich die Stromstraße, an der nächsten, etwa 700 m entfernten, Shopping Mall zu einer Hochstraße anhebt, und in den Westhafen führt befindet sich in einem Ladengeschäft hinter Milchglasscheiben der Berliner Projektraum Å+. Hier zu Gast zeigte die vom Project Space Festival nach Berlin eingeladene Galerie BRD eine Kooperation zwischen zwei Parteien, die verhandeln, ob und wie sie einander nützen können: Cosmin Covaciu und Jasmina Ferouca, beide in einer Leipziger Sinti und Roma Gemeinde verwurzelt sowie Uwe Greiner, der gemeinsam mit Covaciu einen Schrotthandel betreibt und ihn zu Ämtern begleitet. Als Gegenleistung bekam Greiner eine Art Empfehlungsschreiben, von Ferouca formuliert, das ihm einen Zugang zur Roma Community verschafft. In dieser Ausstellung wurde alles nach Kosten – Nutzen abgewogen, auch die Schrotteile, die durch Covaciu und Greiner in der Ausstellung sorgsam nach verschiedenen Metallen sortiert und arrangiert wurden. Die beigelegten Kilogramm-Preise des Metallschrotts verweisen auf dessen Zweck, der ganz klar kein künstlerischer ist. Er ist hier zwischengelagert, bis er abgeholt und weiterverkauft wird. Covacju und Greiner selbst sind nicht anwesend. Das hätte sich rein rechnerisch nicht gelohnt.
Galerie BRD with Cosmin Covacju, Jasmina Ferouca & Uwe Greiner, Zwei verhandeln, ob und wie sie einander nützen können, Installationsansicht, 2016
Foto: Why Alix
Project Space Festival Tag 10: Raumerweiterungshalle
Die Raumwerweiterungshalle ist eine portable Architektur, entworfen in der DDR der 1960er und 70er – ein Raum aus acht Teilen, die sich teleskopartig zusammenschieben und auseinanderziehen lässt. Eine dieser Raumerweiterungshallen parkt jetzt neben About_Blank nähe Ostkreuz, einer gemütlichen Ecke, die von Selbstuniversität e.V. für Filmabende, Performances, Lesungen, Konzerte, Seminare, Diskussionen, Ausstellungen und Workshops genutzt wird. Der Fokus auf eine Queer-Feministische Form von Selbstbildung, die elitäre Privilegien und wirtschaftlichen Wettbewerb umgeht, entstand aus den Berliner Student*Innen Streiks von 2003 und wurde von dem Raum am Mittwoch Abend fortgeführt.
In der frischen Kälte scharten wir uns um ein Lagerfeuer bevor wir in die Raumwerweiterungshalle strömen für einen konzeptuellen Vortrag, eine Videoarbeit und Musik Performance einer Vierergruppe, die, als Nicht-Künstler*Innen das Project Space Festival für sich beanspruchen, die Grenzen des Projektraums als exklusive „Künstler*Innen“ Zone ausreizen.
Coco Detrow, Hanna Bergfors, Nai Fowler und Ari Robey-Lawrences Lesung, vorgetragen von einer körperlosen Sprachaufnahme, begann mit der Beobachtung, dass wir wahrscheinlich die letzte Generation von Menschen sind, die ihre Leben in den Körpern lebt, in die sie hineingeboren wurden. Jedoch ist der Körper mehr als bloßes Fleisch. Soziale und kulturelle Strukturen formen ihn ins Sein, indem sie über die Attraktivität von Formen, Hautfarben und Altersstufen bestimmen und damit einige mächtiger als andere machen. Was passiert, wenn es einigen wenigen möglich ist, diese Attribute zu kaufen und verkaufen? Resultiert daraus eine Oberschicht bio-ökologischer Eliten (die von der „Kunstwelt“ gleichzeitig kommentiert und bevölkert wird)? Und wie wäre es möglich, die Freude an der Verschiedenheit wieder für sich zu entdecken?
Coco Detrow, Hanna Bergfors,Nai Fowler & Ari Robey-Lawrence, Hot Chix: Neither Here nor There // Geile Uschis: weder hier noch dort, zeitbasierte multimedialer Vortrag-Performance, 2016
Foto: André Wunstorf
Die Lecture-Performance wurde begleitet von einem faszinierenden Film-Loop in Zeitlupe, in dem die Kamera eine Frau in schwarzer Sportunterwäsche und in immerwährender Bewegung umkreiste. Sie hätte ein Avatar sein können, ein Klon im Wartestand oder ein Ersatzkörper – einzig war ihr Leib zu menschlich, zu nah und zu echt.
Project Space Festival Tag 11: Santa Lucia
Niko Solorio – sich auf einem schwarzen Ledersofa lümmelnd und umgeben von Sound-Devices – daneben die Projektion eines Vorhangs, der durch den Luftzug des offenenen Fensters sanft hin und her geweht wird, die neben ihm die gesamte Wand einnahm.
Es fühlte sich an wie gerade aufgewacht und noch ein bisschen liegen bleiben. Und tatsächlich raunte Niko ins Mikrophon: „I’m about to stay in bed, I’m about to set a trend, I’m about to make you forget“.
BeiSanta Lucia ließen Niko Solorio und Rebecca Salvadori einen Einblick in ihren jahrelangen, tagebuchartigen Austausch zu – in die subtile Weise, in der sie versuchten, ihre Arbeiten einander anzunähern, miteinander zu verweben, und sie in Dialog treten zu lassen. Rebecca Salvadori hat über Jahre hinweg eine eigene, sehr reduzierte Formensprache entwickelt, die sich teilweise in Niko Solorios Videos einschlich, aber auch als Serie von großen, glänzenden Prints, ihren eigenen Raum an der Wand einnahmen.
Ein einzelner Druck hat sich abgesondert und hängt im Eingangsraum über zwei Stühlen, die sich leer gegenüberstehen. Es war die Entscheidung der beiden Künstler*Innen, die diesen Druck als einzigen zusammen entwickelt haben. Zum ersten Mal hat Rebecca Salvadori sich darauf eingelassen, jemand anderen an ihrem Prozess, an ihrer Formfindung teilhaben zu lassen.
Während Rebecca Salvadori mit einer gewissen abstrakten Strenge hantierte, verführte der Musiker, und Multi Media Künstler Niko Solorio mit einer schläfrigen Lässigkeit, die in seiner Musik und in den dafür selbst produzierten Musikvideos zu tage treten. „Bei dieser Aufnahme fuhren eine Menge Polizeiwagen vor unserem Fenster vorbei. Die Sirenen haben uns dann gefallen und wir haben sie einfach dringelassen.“ Aus einem Apartment gefilmte Straßenszenen, wie Straßenprediger oder ein vorbeifahrendes Blaulicht reihten sich an Testbilder und einem Hula-hoop tanzenden Niko.
„Bitch I’ll knock you out. I’m just talking to myself“ tönte es wie ein Mantra aus dem Video, während Max Dax und Luci Lux alles für das anschließende Abendessen der Galerie der Gespräche vorbereiteten.
Niko Solorio & Rebecca Salvadori, Niko Solorio and Rebecca Salvadoriin Dialogue, 2016
Foto: André Wunstorf
Project Space Festival Tag 12: uqbar
uqbar – ein fiktiver Eintrag in einer gefunden Enzyklopädie, beschrieben in einer Kurzgeschichte von Borges – ist ein literarischer Platzhalter für die Konstruktion von Bedeutung. Wie seine Nachbarn Copyright und Kronenboden, ist uqbar ein Projektraum und einem integraler Bestandteil der Kolonie Wedding, ein Zusammenschluss von Kunstinitiativen in Berlins Norden, geschaffen mit der Unterstützung von einer der sechs kommunalen Wohngesellschaften in Berlin.
Für das Project Space Festival 2016 haben sich die drei Räume – als Geste der Gastlichkeit – dazu entschlossen, einen vierten Raum – U10 aus Belgrad, Serbien, einzuladen. U10 wurde 2012 von Künstler*Innen für Künstler*Innen gegründet, um neuer künstlerischer Praxis Aufmerksamkeit zu verschaffen, der es an Repräsentation in Belgrads existierenden kommerziellen und institutionellen Zusammenhängen fehlt. Erst kürzlich organisierte der Raum einen Austausch zwischen Künstle*Innen und Kurator*Innen der, ehemals jugoslawischen, Region.
Es ist schwer zu beschreiben, aber mir wehte ein Wind der entschlossenen Resignation aus der Ausstellung entgegen, die Zeichnungen, Malerei, Installation und Videoarbeiten der sieben Gründer*Innen von U10 zeigte: Lidija Delić, Nina Ivanović, Sava Knežević, Isidora Krstić, Iva Kuzmanović, Nemanja Nikolić und Marija Šević. Vielleicht begann es bei Kuzmanovićs 20-sekündigen Loop-video mit dem Titel „Things can change“, in dem ein Totenkopfgemälde sich aus weiter Entfernung dem Betrachter immer weiter näherte, bis es den Bildschirm komplett ausfüllte, um schließlich zu verschwinden und sich erneut anzunähern. Tatsächlich ändert sich nichts, scheint mir die Arbeit zu sagen – und alles, was ich heraufbeschwören würde, um das zu widerlegen, wäre bloßer Eskapismus.
In Nemanja Nikolićs Panic Book, die einzige Arbeit in der Ausstellung, die sich explizit auf die Vergangenheit bezieht, waren Szenen aus Hitchcock Filmen fein säuberlich in die Seiten sozialistischer jugoslawischer Schulbücher aus der gleichen Zeit gezeichnet. Hier überschneiden sich zwei ideologische Systeme, formen eine sorgsame Dramaturgie der Spannungen, die während dem Kalten Krieg auftauchten.
Nemanja Nikolić, Panic Book, 2015, Wandinstallation (60 Zeichnungen, Tinte und Kreide auf Bücher, auf Holz montiert), Größe variabel
Foto: Joanna Kosowska
Nina Ivanovićs Aquarellarbeiten auf Papier (In right place, 2015 / 16) zeigen einen intimen flüchtigen Blick oder Schnappschüsse von Touristen in einer leeren Landschaft, ein Mann oben ohne im Museum, ein Tiger, der auf einer Schulter dahintreibt: banale Momente werden plötzlich mit Spannung aufgeladen von flatternden Linien und Farbflecken. Marija Ševićs große, glänzend dunkle Malereien Ecstasy (2016) und The return to nature (2015) zeigten Jugendliche – anscheinend erwischt – in isolierten Momenten von unsicherem Hedonismus, kauernd in einem Wald oder es sich in einem großen Bett gemütlich machend, einen Nachgeschmack von einsamem Luxus zurücklassend. Tatsächlich war U10 kürzlich Teilnehmer der Art Basel. Ein anderes Bild dieser Künstlerin – das kein Teil der Ausstellung war – trägt den einfühlsamen Titel Alone with the art market (2010).
In der Unterhaltung zwischen den Initiatorinnen des Raumes und Aleksandra Jovanić von der University of Arts, Belgrad – die als Teil der Eröffnung stattfand – wurden Fragen über die Politik der Repräsentation aufgeworfen. Was passierte mit den Künstler*Innen der „älteren Generation“, die während dem Krieg bereits erwachsen waren? Inwieweit kann man in der jugoslawischen Region von „Gemeinsamkeiten“ sprechen? Auf mich wirkte U10 sorgsam und entschlossen darauf bedacht, einen neuen Start zu schaffen.
Project Space Festival Tag 13: NON Berlin
Kaum gegensätzlicher als unser Weg, der uns am Samstag Abend durch ein lebhaftes Berlin Mitte in die ruhige Abzweigung der Chausseestraße führte, konnte der Eindruck beim Betreten der hellen Räume von NON Berlin sein. Der von Jae Kyung Kim gestaltete Raum, der am Samstagabend zur Erkundung von sozialen Normen des Schreiens hergerichtet wurde, erwartete die Besucher mit einem Arrangement aus unbespannten Keilrahmen an den Wänden.
Die anstelle von Leinwänden sichtbaren Konstruktionen aus Holzstreben, die normalerweise hinter den Präsentationen von Bildern verschwinden, boten zusammen mit einer Anzahl von Werkzeugen, die aus dem Keller des Projektraumes hervorgeholt worden waren, das Setting für die Suche nach dem Verborgenen.
Das Projekt „love! The hidden voice“ – welches heute Abend in der Reihe NON 論 DA 多 {PLAY} als Zusammenspiel von Klang, Installation und Performance angekündigt war, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Schreien als ein, im besonderen Maße emotionales, von der Norm abweichendes, Verhalten zu erkunden.
Su-Mi Jang & Miriam Siebenstädt, love! the hidden voice, 2016, Performance, Rauminstallation von Jae Kyung Kim
Foto: André Wunstorf
Wer sich auf eine unmittelbare Begegnung mit schreiender Kunst eingestellt hatte, wurde überrascht. Der Performance von Sumi Jang, in der es um die Begegnung mit dem Schreien gehen sollte, ging eine lange, fast zweifelnde, Stille mit einzelnen zaghaften Tönen voran, die Jang und ihre Partnerin Miriam Siebenstädt mit den umliegenden Werkzeugen erzeugten.
Anstelle von mitgebrachten Instrumenten lagen unterschiedliche Sägen bereit, die mit Geigenbögen angespielt wurden. Die Besucher befanden sich dabei in der Mitte des Raumes auf einer Art verlängerter Sitzreihe, während das Spiel der beiden Performerinnen sich kreisend um sie herumbewegte. Auf die Frage von Sumi Jang, wann einige der Besucher*Innen das letzte Mal geschrien hätten, fiel die Antwort überraschend unterschiedlich aus. Die Künstlerin ermutigte die befragten Zuschauer zunächst zu gemeinsamem Schreien, die wie aus einer Parallelwelt hervorgeholt langanhaltend den Raum erfüllten, bevor Jang sich selbst daran machte, in tänzerischem Anlauf sich auf ihr eigenes Schreien vorzubereiten. Zunächst gelang es ihr durch einen lautlos erstarrten Schrei, den angespannten Ausdruck des Körpers darzustellen.
Der im Verborgenen liegende Schrei erzeugte dabei ein vorübergehendes Bild der Ohnmacht, in dem die eigene Stimme zu versagen schien. Erst mehrere weitere Anläufe verhalfen dieser Stimme zu ihrem Klang, welcher dann mehrfach wütend, klagend, schmerzverzerrt und röchelnd nach außen drang.
Die verstörende Nachwirkung dieses Klangs beurteilten die Besucher im anschließenden Gespräch, je nach Geschlecht und kulturellem Hintergrund höchst unterschiedlich. Während esdas Anliegen der Performerinnen war, auf das sozial abweichende Verhalten von Frauen im asiatischen Raum hinzuweisen, zeigte sich eine Besucherin aus Griechenland mit der Wahrnehmung von Schreien geübt. In den Mittelmeerstaaten sei Schreien etwas alltägliches und werde ständig von jedem ausgeübt, ohne dass dies ein soziales Tabu darstellen würde. Der asiatische-europäische Austausch, dem NON Berlin sich verschrieben hat, war damit wieder einmal mehr in Gang gekommen.
Project Space Festival Tag 14: District
Mythologische Figuren sind Hybride, die zwischen den Welten existieren – das Tier und der Mensch, die Vergangenheit und die Gegenwart, die See und das Festland. Zwei Künstlerinnen verhandelten die Materialisation dieses konfliktbeladenen Raumes zwischen den Zonen in Districts THE MEANY HEADED HYDRA in einer eintägigen Ausstellung in einem ehemaligen DDR-Grenzwachturm in Berlin-Treptow. In kleinen Gruppen erklommen die Besucher den Turm und begegneten zwei Arbeiten als Ausdruck zweier mythischen und zeitgenössischen Figuren des Widerstands.
Eine süd-ost-asiatische Frau wurde in den 1880ern von dem deutschen Jäger Brietwiser nach Europa gebracht. Die Frau trat in Hamburgs kolonialistischer Völkerschau als Schlangenbeschwörerin auf. Irgendwann fand ein chromolithographisches Abbild von ihr den Weg zurück nach Westafrika, wo sie von der lokalen Bevölkerung als Mami Wati identifiziert wurde, dem androgynen afrikanischen Wassergeist, der seit Urzeiten verehrt wird und auch mit der Schlangenbeschwörung in Verbindung gebracht wird. Ato Malinda hat Mami Wati in ihrem Film On Fait Ensemble (2015) kanalisiert, in dem eine weiß gekleidete schwarze Frau in dem verworrenen Gestrüpp neben einem träge dahinfließenden Fluss schwebt, begleitet von den Worten des Poeten Langston Hughes: „Ich habe Flüsse gekannt, so alt wie die Welt und älter als der Fluss menschlichen Blutes in menschlichen Venen.“ Die Szenen mit Mami Wati waren gegengeschnitten mit Malinda, die Mami Watis Beniner Gegenpart Papi Wati, einem weiß geschminkten Gesicht, das Bilder auf einem heutigen Marktplatz verteilt – das Eindringen des weißen Europäischen Mannes. Aber auch Mami Wati glitt körperlos und geisterhaft durch diese alltäglichen Verkehrs- und Handelsszenen. Kann ein alter Geist dabei helfen, die Probleme der heutigen Zeit zur Sprache zu bringen?
Bryndís Björnsdóttir, Mountain Woman – Tunes to FaceTime, 2016, performance
Foto: Joanna Kosowska
Bryndis Björnsdottirs Performance verkörperte eine andere Erscheinung: die Bergfrau, ein Figur isländischen und kurdischen Ursprungs. In Island repräsentiert die Frau vom Berg die Sehnsucht einer Nation nach politischer und ökonomischer Unabhängigkeit. Gleichzeitig war sie wichtig für Islands stark feministische Geschichte. Die kurdische Bergfrau dagegen verkörpert eine Gruppe, die für ein staatenloses Ideal kämpft. Die Künstlerin kanalisiert beide Figuren und kreiert damit einen politischen Widerstand gegen die „Quotenkönige“ (große isländische Fischerei – Zusammenschlüsse, die die Fangrechte kleiner Fischer aufkauft). In letzter Zeit hat sich Islands Fischereigebiet bis in nordafrikanische Gewässer ausgedehnt. Diesen getrübten Gewässern entstieg die starke Frauenfigur der Künstlerin, in schwarz gehüllt und gebadet im Gestank von angespülten Fischen, kauernd in einem arrangierten leuchtenden Spektakel der See, ihre falschen pinken Wimpern, die Gummistiefel-Kopfbedeckung und Make up – alles Requisiten eines aus voller Kehle gesungenen Klageliedes: eine subalterne Quotenkönigin, die die Akkumulation der Gemeingüter durch kapitalistische Kräfte ankündigt.
Ich wurde daran erinnert, mich zu hüten: mit dem Wasser von Flüssen und See in unseren Venen, haben Menschen und Fische mehr gemeinsam als vermutet.